Hodenkrebs: Das war lange Zeit kein Thema, das in der Öffentlichkeit eine nennenswerte Rolle spielte. Dann aber, von Früh- bis Spätsommer 2022, erkrankten daran gleich vier Bundesliga-Profis: Sebastian Haller, Marco Richter, Timo Baumgartl und Jean-Paul Boetius. Die Thematik war plötzlich sehr präsent, gerade auch im Bereich des Fußballs. Und auch wenn sie derzeit wieder in den Hintergrund gerückt ist, verliert sie deshalb nicht an Bedeutung – das sagt auch Prof. Dr. Hans Schmelz, Direktor der Klinik für Urologie am Bundeswehr-Zentralkrankenhaus in Koblenz, im Interview.
Prof. Dr. Schmelz, das Thema Hodenkrebs war zuletzt sehr präsent, weil einige Profifußballer ihre Erkrankung publik machten. Haben Sie durch die Berichterstattung eine veränderte Wahrnehmung des Themas feststellen können?
Schmelz: Nein, das haben wir nicht festgestellt. Wir sind allerdings auch eine Klinik und haben keine reguläre ambulante Sprechstunde. Bei uns gibt es lediglich die Soldatensprechstunde, und zur privaten Sprechstunde kommen ältere Patienten.
Was glauben Sie: Fehlt es nach wie vor an der Sensibilität für diese Thematik?
Schmelz: Es fehlt durchaus an Sensibilität. Wenn junge Männer am Hoden etwas ertasten, bekommen sie Angst – aber in der Regel tasten sie eben nicht aktiv und regelmäßig nach. Doch genau das müssten sie machen.
Es sind ja vorwiegend junge Männer im Alter von 20 bis 35 Jahren von Hodenkrebs betroffen. Fällt der Gang zum Arzt in diesem Alter noch schwerer?
Schmelz: Da ist sicherlich ein wenig Scham dabei, aber auch Unwissenheit – man rechnet ja nicht damit, selbst betroffen sein zu können. Hodenkrebs ist der Tumor des jungen Mannes, und letztlich wird Krebs eher mit älteren Menschen verbunden, nicht mit jungen. Und wenn man die Hosen vor einem Arzt herunterlassen muss, ist das für viele nicht so prickelnd.
Gibt es spezielle Risikofaktoren für Hodenkrebs?
Schmelz: Wenn man mal einen Hodenhochstand hatte, ist das ein großer Risikofaktor. Das größte Risiko besteht, wenn man schon mal einen Hodentumor hatte, also auf der Gegenseite einen Tumor bekommt. Dazu kommt eine familiäre Komponente: Die Blutsverwandten von Hodentumorpatienten haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko – genauso wie Männer, die unfruchtbar sind.
Dann gibt es vermutlich keine Möglichkeiten der Prävention, oder?
Schmelz: Nein, direkte Prävention ist nicht möglich – nur eine Art Sekundärprävention, indem man es rechtzeitig erkennt. Alle externen Risikofaktoren sind weich, also nicht wissenschaftlich nachgewiesen. Man diskutiert, ob ein Anabolika-Missbrauch oder auch Cannabis-Konsum zu einem erhöhten Hodenkrebs-Risiko führen, aber das ist wissenschaftlich nicht zum 100 Prozent belegt.
Gibt es eine Art Grundregel, wann ein junger Mann zum Arzt gehen sollte?
Schmelz: Wenn er irgendeine Form von Verhärtung am Hoden tastet. Der Arzt überprüft das, zusätzlich werden ein Ultraschall und eine Laboruntersuchung durchgeführt. Die meisten Hodentumore sieht man im Ultraschall. Manchmal fallen aber auch erst die Tochtergeschwülste des Hodentumors auf. Der Hodentumor metastasiert in den hinteren Bauchraum. Dort können die Metastasen Rückenschmerzen verursachen. Daher gilt: Wenn Patienten nicht zuzuordnende Rückenschmerzen haben, die über Therapie nicht zu lindern sind, kann das – selten – ein Anzeichen für einen Hodentumor sein. Auch hier gilt: Am besten selbst den Hoden tasten, ob dort etwas unregelmäßig ist.
Wenn nun tatsächlich Hodenkrebs festgestellt wird: Wie sind die Heilungschancen? Oder ist das sehr individuell?
Schmelz: Die Heilungschancen sind exzellent. Wenn man den Hodentumor in einem frühen Stadium erkennt, hat man eine Heilungschance von 98 oder 99 Prozent. Wenn wir ihn im fortgeschrittenen Stadium erkennen, wenn er also schon weit metastasiert ist, sinken die Chancen auf ca. 50 Prozent. Erfreulicherweise werden 85 bis 90 Prozent aller Hodentumore im frühen Stadium erkannt, entsprechend haben die Patienten eine sehr hohe Heilungschance. Daher ist es wichtig, dass den Tumor im frühen Stadium zu entdecken: Früherkennung ist relevant, deshalb ist das Tasten so wichtig.
Können Sie das frühe und spätere Stadium etwas näher umschreiben?
Schmelz: Es gibt verschiedene Stadien der Metastasierung. Die meisten Tumore haben keine Tochtergeschwülste, also Metastasen. Es gibt aber auch Tumore, bei denen Tochtergeschwülste in den Lymphknoten im hinteren Bauchraum gefunden werden. Die fortgeschrittenen Tumore haben Metastasen in der Lunge, der Leber oder den Knochen. Nochmals: Je früher der Tumor erkannt wird, desto besser die Heilungschance.
Wenn nun ein Patient zu Ihnen kommt: Wie läuft der Arztbesuch ab, was ist Ihre Aufgabe?
Schmelz: Als Erstes stellen wir die Diagnose, machen einen Ultraschall vom Hoden und nehmen Blut ab. Wenn sich der Verdacht auf einen Tumor erhärtet, legen wir den Hoden über einen Leistenschnitt frei, und dann wird der Hoden zum Pathologen eingeschickt, der uns noch in den OP sagt, ob der Tumor bösartig ist oder nicht. Wenn es ein bösartiger Tumor ist, wird der Hoden entfernt. Man kann eine Hodenprothese einlegen, wenn der Patient das wünscht. Anschließend wird eine Ausbreitungsdiagnostik gemacht, ob der Tumor gestreut hat. Dazu wird ein Computertomogramm des Körpers durchgeführt. Wenn der Tumor nicht gestreut hat, reicht es in der Regel aus, die Situation künftig engmaschig zu überwachen. Wenn er gestreut hat, hängt es vom Gewebsergebnis ab. Je nach dem gibt es danach die Chemotherapie oder die Bestrahlung – beide aber in den frühen Stadien mit exzellenten Heilungschancen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Bitte keine Scham – und tasten, tasten, tasten!
Schmelz: Genau. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Fußballprofis öffentlich darüber sprechen, weil es die Scham rund um das Thema senkt. Wenn es Vorbilder gibt, die alle kennen und gut finden und die auch darüber sprechen, dann kann das nur helfen.